top of page
  • Joachim Materna & Ellen Kuhn

Chico (2 Jahre) auf Weltreise - ein erstaunlich offenes Gespräch mit seinen Eltern

Aktualisiert: 2. Jan. 2020


Weltreise mit Kind, Reisen mit Kind, Weltreise

Die Weltreise von Tatiana Pavanello (35) und Rafael Menezes (35) begann, als ihr gemeinsamer Sohn Chico 1 Jahr alt war. Seit einem Jahr sind sie nun zu dritt unterwegs. Mehr oder weniger. Eine Reise mit allen Höhen und Tiefen, die man sich vorstellen kann. WELTREISE-TRAUM traf die drei zu einem Gespräch am Piazza S. Egidio in Rom.

Was hat Sie zu Ihrer Reise bewogen? Gab es ein oder mehrere Schlüsselmomente für die Entscheidung?

Tatiana: Ich bin in einer kleinen Stadt in der Nähe von Sao Paulo groß geworden. Rafael und ich haben in der gleichen Firma gearbeitet, ich als Produktmanager, Rafael als Finanzmanager. Dort haben wir uns auch vor 10 Jahren kennen und lieben gelernt. Ich war ein echter Workaholic, 10-15 Stunden Arbeit am Tag - ich dachte, die Firma würde ohne mich aufhören zu existieren. Und mir war Sicherheit immer extrem wichtig. Deshalb haben wir auch zusammen sehr viel gespart, um für „irgendetwas Großes“ in unserem Leben Rücklagen zu haben, ohne dass wir damals wussten, was das sein würde, vielleicht ein gemeinsames Geschäft oder eine große Reise. Meine bisherigen Reisen beschränkten sich auf „Standard-Trips“, ich habe nie etwas wirklich Verrücktes gemacht. Rafael ist sehr viel mehr gereist als ich. Und dann wurde ich schwanger in einer Zeit, wo wir sowieso sehr viel über unser Leben gesprochen haben. Ich dachte, jetzt ist alles vorbei. Aber irgendwann entschieden wir uns mitten in der Nacht, es zu wagen. Eine wirklich lange Reise um die Welt mit unserem Kind. Wir sagten uns beide: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Rafael: Dann haben wir einfach beide unsere Jobs gekündigt und beschlossen, für die nächsten 1,5 Jahre auf Reisen zu gehen.

Wie haben Sie diese besondere Reise geplant?

Rafael: Wir hatten eine gemeinsame Wunschliste, alles, was wir im Leben einmal anschauen wollten. Die war gigantisch lang (lacht). Ich bin Finanz-Manager, also haben wir eine Excel-Liste angelegt. Es gab ein Raster mit rot, gelb und grün. Rote Länder zum Beispiel waren zu teuer, zu regnerisch, zu kalt oder zu anstrengend für Chico. Auf Platz eins sind für mich Australien und Hawaii gelandet, für Tatiana Bali. Alleine hätten wir sicherlich mehr hinein gepackt, aber wegen Chico haben wir beschlossen, immer länger an einem Ort zu bleiben.

Tatiana: Als Test sind wir zunächst einen Monat durch Kolumbien und Venezuela gereist und danach nochmals zurück nach Brasilien. Es hat alles wunderbar geklappt und deshalb stand für uns fest, dass es richtig los geht. Schon 10 Tage später starteten wir nach Japan.

Rafael: Meistens haben wir am Anfang immer das nächste Land im Voraus geplant. In Asien und Australien war die Planung sogar noch kurzfristiger. Aber das hat sich für uns nicht bewährt. Deshalb ist unsere Planung jetzt viel langfristiger geworden. Für Europa haben wir alle Flüge und Unterkünfte en bloc gebucht, bevor wir den Kontinent betreten haben. Das ist für uns sehr viel entspannter, vor Ort können wir viel mehr genießen.

Wohin hat Sie Ihre Reise bisher geführt und welche Ziele haben Sie noch?

Rafael: Von Japan aus ging es weiter nach China, Kuala Lumpur, Singapur, Bali, Neuseeland, Fidschi und Australien. Weihnachten, Silvester und Karneval ist für uns Brasilianer etwas ganz besonders, deshalb stand bereits vor Reisebeginn fest, dass wir Ende Dezember, Anfang Januar zu Hause sein würden. Im Anschluss ging es nach Südafrika, Kenia und Sansibar. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon etwa seit 6 Monaten unterwegs und da kam die große Krise (schaut sehr ernst und betroffen zu Tatiana). Aktuell sind wir 3 Monate lang in Europa unterwegs und nach einem weiteren Zwischenstopp in Brasilien werden wir für weitere 1-2 Monate in den USA herumreisen.

Dürfen wir Sie fragen, worin Ihre Krise bestand?

Tatiana: Das teile ich gerne. Ich habe kein Problem darüber zu sprechen. Eine derartige Auszeit kann eine sehr intensive Therapie für das Leben sein. Es ist eine Art tiefes Eintauchen in sich selbst, das hätte ich zuvor nie gedacht. Und natürlich eine große Herausforderung. Deshalb standen wir auf Sansibar plötzlich vor dem Aus unserer Pläne, unserer Reise und unserer Beziehung. Es kamen einfach unglaublich viele Dinge zusammen.

Als Chico geboren wurde, änderte sich für mich zunächst nicht viel. Ich arbeitete genau so weiter, er war bei einer Tagesmutter und wir holten ihn abwechselnd nach der Arbeit ab. Als ich auf Bali Frauen in einem Kaffee beobachtete, wurde mir irgendwann so richtig klar und zum ersten Mal bewusst - ich bin eine Mutter, 24 Stunden am Tag bin ich für ein Wesen verantwortlich. Ich konnte nicht mehr einfach so Kaffee trinken gehen, alles was ich tue muss auf Chico abgestimmt sein. Das war sehr hart für mich. Demnach war das erste Problem auf der Reise für mich, meine Rolle als Mutter erstmalig wirklich zu spüren und für mich zu finden. In Brasilien gibt es seit ein bis zwei Jahren eine Bewegung, die sich sehr kritisch mit der Mutterrolle auseinandersetzt. Natürlich habe ich das auch mitbekommen, aber niemals so richtig drüber nachgedacht.

Rafael: Auch für mich war diese neue Rolle, jeden Tag zu mindestens 50 % für Chico da zu sein, ziemlich schwierig. Einerseits war es eine Chance, die nicht viele Männer haben. Ich sehe jeden Tag, wie er sich entwickelt und heranwächst. Andererseits muss ich mich jetzt auch wirklich kümmern und kann mich nicht durch meinen Job oder Hobbys aus der Verantwortung ziehen. Ich denke, es war für uns beide eine große Herausforderung, eine Balance zu finden. Für mich vielleicht eine der größten in meinem bisherigen Leben.

Tatiana: Aus meiner Sicht waren noch weitere Dinge für die Krise verantwortlich. Vor der Reise dachte ich, die Weltreise wäre einfach ein langer Urlaub. Irgendwann haben wir es als Belastung empfunden, dass wir alle drei 24 Stunden am Tag zusammen waren. Das kann sehr schön sein, manchmal aber auch sehr anstrengend und nervig. Ein wichtiger Punkt war es außerdem, dass wir falsche Erwartungen an uns selbst und an die Orte hatten, die wir besucht haben. Zu hohe Erwartungen führen fast zwangsläufig dazu, dass man enttäuscht wird. Auf Sansibar ging es uns so. Zu guter Letzt kamen zu allem dann auch noch die ganzen Zukunftsängste auf einmal hoch. Wie soll es weiter gehen nach der Reise? Werden wir genug Geld haben? Werden wir überhaupt noch zusammen sein können oder sollen wir uns nicht besser trennen?

Dass wir hier in Rom zusammen sitzen bedeutet ja, dass die Reise weiter ging. Wie sind Sie mit dieser Krise umgegangen? Welche Lösung haben Sie gefunden?

Rafael: Wir haben die Reise nach Sansibar abgebrochen und sind nach Hause geflogen.

Tatiana: Manchmal glaube ich, dass Ignoranz viel Glück bringen kann. Durch die Reise wurden bei mir viele Gedanken angestoßen, von denen ich früher nicht einmal wusste, dass ich sie haben würde. Durch meine viele Arbeit habe ich mich früher so sehr abgelenkt, alles verdrängt und nur im Außen gelebt, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie leer mein Inneres war. Während der gesamten Reise um die Welt hat sich das alles umgekehrt. Das äußere Leben beschränkt sich nun auf die einfachen Dinge, aber im Inneren kann ich nicht aufhören zu denken. Ich weiß, dass ich auf keinen Fall das tun will, was ich vorher gemacht habe, aber was wäre das Richtige? Es gab und gibt so viele Möglichkeiten, das hat mich ganz verrückt gemacht. Erst jetzt spüre ich langsam, welche Leidenschaften und Interessen ich wirklich habe und was mir gut tut. Auf Sansibar habe ich das alleine nicht mehr auf die Reihe bekommen und dann in Brasilien eine psychologische Therapie begonnen. Bis heute skype ich regelmäßig mit meinem Therapeuten.

Rafael: Heute denken wir, dass wir diese Krise gebraucht haben, weil wir danach stärker waren als zu dem Zeitpunkt, als wir ursprünglich gestartet sind. Wir treffen Entscheidungen sehr viel bewusster als zuvor und sind als Paar und Familie zusammengewachsen. Natürlich gab es den Gedanken, alles abzubrechen. Aber uns war klar, dass wir die Chance so schnell nicht wieder bekommen würden, vielleicht erst wieder nach der Schulzeit von Chico. Und während der zwei Monate in Brasilien wurde uns beiden bewusst, dass es etwas wirklich Großartiges und Gemeinsames war, was wir beide mit der Reise begonnen hatten. Und irgendwann war es eine ganz einfache und logische Entscheidung, wieder zu starten und wir buchten Europa.

Was ist das Besondere, wenn man mit einem Kind um die Welt reist?

Rafael: Man muss sehr langsam reisen und die täglichen Bedürfnisse eines Kindes in den Vordergrund stellen, seinen Rhythmus respektieren. Nach dem Mittagessen beispielsweise muss Chico schlafen. Wenn wir unterwegs sind, schläft er in der Brusttragetasche. Mit dem Essen ist er sehr unkompliziert, aber wir müssen feste Essenszeiten einhalten. Wenn das alles klappt, läuft es gut, andernfalls wird er am Ende des Tages verrückt. Da er unbedingt um acht Uhr abends schlafen muss, gehen wir auch nie aus. Man geht früh ins Bett und steht früh auf.

Tatiana: Zum Glück ist auch das Fliegen mit ihm gar kein Problem. Nur auf den 19 Stunden nach Tokyo wurde er langsam ungeduldig (lacht). Auf den Langstreckenflügen war es sehr angenehm, dass ich bis vor kurzem noch gestillt habe. In Zukunft müssen wir uns überlegen, wie wir ihn auf langen Flügen bespaßen. Zeitumstellungen bewältigt er deutlich besser als wir. Er kommt irgendwo an und ist einfach da, voller Energie, Entdeckungslust und Neugier. Er fühlt sich überall zu Hause.

Rafael: Wegen Chico haben wir zum ersten Mal eine riesige Reiseapotheke dabei und waren auch vor dem Start zur Untersuchung, Beratung und Impfung beim Kinderarzt. Als Unterkünfte haben wir fast überall Wohnungen gewählt, so dass wir genug Freiraum und Rückzugsmöglichkeiten haben und vielleicht auch mal selbst kochen können. Nur auf Fidschi hatten wir uns für ein Resort entschieden, bei Brasilianern eine beliebte Urlaubsform. Aber das würden wir nicht mehr machen, wir fühlten uns dort zu unfrei.

Welchen Einfluss wird die Weltreise auf Chico haben? Was denken Sie?

Rafael: Wir sind sicher, dass er sich an das meiste später nicht bewusst erinnern wird. Aber wir sind überzeugt, dass in seinen Gefühlen, in seinem Wesen und in seinem Unterbewusstsein ganz viel zurückbleiben wird. Zum Beispiel dieses Vertrauen und diese Sicherheit, die wir ihm als Eltern auf der Reise bieten, indem wir so viel Zeit mit ihm verbringen und er Nähe spürt. Schon jetzt ist er ein unglaublich positives, lebensfrohes und zugewandtes Kind.

Tatiana: Für mich war es so schwer herauszufinden, was mich glücklich macht. Ich will, dass Chico früher herausfindet, was seine Leidenschaft ist ohne die Krisen, die ich hatte. Dieser Lebensstil auf der Weltreise bringt eine ganz besondere Art von Flexibilität mit sich. Wir wollen ihm ermöglichen, so viel wie möglich auszuprobieren, um herauszufinden, was er will. Dabei hilft die Erfahrung mit verschiedensten Orten und Kulturen ihm sicherlich enorm auch wenn es vielleicht unbewusst ist.

Gab es schockierende Momente, etwas, mit dem Sie nicht gerechnet hätten?

Rafael: In Tokyo haben wir in unserem Apartment morgens um 5 Uhr plötzlich ein starkes Erdbeben gespürt für circa 10 bis 15 Sekunden. Das kennen wir aus Brasilien überhaupt nicht und hat uns ziemlich viel Angst gemacht. Japaner, mit denen wir darüber gesprochen haben, haben nur mit den Schultern gezuckt. Für die ist das Alltag.

Tatiana: Für mich war ein Erlebnis in China das schlimmste. Die Kultur war für uns sowieso schwierig. Überall versuchte man uns mit irgendwelchen Tricks auszunehmen. Wir Brasilianer sind da ja viel gewöhnt, aber das in China übertraf alles. Und dann passierte es auf offener Straße: ein ziemlich schmutziger und heruntergekommener Chinese stürmte auf mich zu und riss mir Chico aus dem Arm. Es ging so schnell, dass ich gar nicht reagieren konnte. Dann kam er mit seinem dreckverkrusteten und zerfurchten Gesicht ganz nahe an Chico heran und gab ihm schließlich einen intensiven Kuss auf die Lippen. Im Anschluss reichte er ihn mir wieder zurück und verschwand. Der Horror einer jeden Mutter, für mich war das ganz furchtbar. Chico hat das alles wahrscheinlich gar nichts ausgemacht, der blieb ganz cool.

Wenn Sie anderen Menschen, die von einer Weltreise träumen, drei Tipps geben sollten, welche wären das?

  1. Tu es jetzt, kündige jetzt! Denke nicht nach.

  2. Wer mit einem Kind unterwegs ist, muss eine Menge Geduld mitbringen. Reisen ist nicht nur Spaß, Strand und Sonnenschein, aber das ist es ja eigentlich nie. Man muss viel Nachsicht mit dem Kind haben und mit sich selbst.

  3. Sei offen und frei und nutze die Zeit der Reise für deine Selbsterkenntnis. Sei offen, deine eigene Welt in Frage zu stellen. Einige tief schürfende Fragen werden mit Sicherheit auftauchen, habe den Mut, dich diesen zu stellen.

Wie wird Ihr Leben nach der Weltreise weiter gehen und hat sich diese Perspektive während der Weltreise verändert?

Rafael: Eigentlich ist noch ziemlich alles offen. Aber wir werden wahrscheinlich nach Brasilien zurückkehren. Ich würde ja gerne an die Gold Coast nach Australien ziehen, aber da ist die Familie in Brasilien doch ziemlich weit weg. Es ist uns wichtig, dass die Familie mitbekommt, wie Chico sich entwickelt. Barcelona fände ich aber auch schön (lacht).

Tatiana: Wir hatten zu Beginn die Idee, gemeinsam eine Firma für gesundes Essen zu eröffnen. Die Perspektive hat sich im Laufe der Reise etwas gewandelt. Zum einen haben wir noch mehr Einfälle bekommen, wie wir so ein Projekt umsetzen können. Vielleicht als Lokal, vielleicht aber auch online. Durch die Krise und die Weltreise an sich steht für uns fest, dass wir unsere Geschäftsideen getrennt voneinander umsetzen wollen, jeder für sich. Obwohl wir uns natürlich gegenseitig unterstützen und helfen werden.

Rafael: Grundsätzlich wollen wir unabhängig sein und auch zukünftig Raum und Zeit für Chico und das gemeinsame Reisen haben. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, meinen alten Beruf als Finanzberater auf selbstständiger Basis auszuüben. Die Rückkehr in ein Angestelltenverhältnis ist ein Back-up Plan, aber nur die allerletzte Möglichkeit. Das wäre ein Rückschritt, dafür haben wir uns beide zu sehr verändert und lieben dieses Gefühl von Freiheit viel zu sehr.

Mehr zur Weltreise von Tatiana, Rafael und Chico auf http://www.chicoontheroad.com/ und http://www.vivabossa.com/.

Die Fragen stellten Ellen Kuhn & Joachim Materna.

© Fotos chicoontheroad

© Gesamter Beitrag: www.travel-edition.net

113 Ansichten

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page