Der erste Blick. Wir schlendern durch Palermo. An jeder Straßenkreuzung an mindestens drei der vier möglichen Ecken ein Café. Kopfstein-gepflasterte Straßen, ein bisschen wie in Paris, Madrid oder Rom. Der Blick in eine schier endlos verlaufende Straße, gesäumt von saftig grünen Baumalleen, die in der warmen Sonne Schatten spenden. Rechts und links kreative, künstlerische Boutiquen, kleine Handwerkstätten und Lebensmittelläden. Es ist Freitag Nachmittag. Ein kleiner Straßenmarkt zieht die ersten Porteños - wie man die in der Hafenstadt lebenden Bewohner auch nennt - hinaus in die unzähligen Bars und Cafés. Noch ist es relativ leer, aber in ein paar Stunden erwacht dieses Viertel zum Leben. Bis in die frühen Morgenstunden pulsiert das argentinische Leben, bis es gegen acht Uhr morgens die letzten Feierenden zurück in ihre Häuser schickt und sich eine fast gespenstische Ruhe in den Straßen ausbreitet. Lebensqualität und Lebensfreude auf argentinisch.
Vielfalt. Natürlich ist Buenos Aires nicht nur Palermo. Es gibt unzählige bekannter und weniger renommierter Stadtteile, die alle Ihren eigenen Charme und Charakter haben. La Bocca, das Viertel der Arbeiterklasse und die Heimat des legendären La Bombonera, das Stadion der Boca Juniors. Recoleta, eines der elegantesten und teuersten Wohn- und Geschäftsviertel, das auch Heimat des bekannten Friedhofs ist, auf dem „Evita“ Eva Peron begraben liegt. Das Viertel Puerto Madero ist ein ehemaliger Hafen von Buenos Aires, der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre restauriert wurde und heute ein Zentrum der gehobenen Gastronomie darstellt. Retiro war einst als eines der wohlhabendsten Viertel in Buenos Aires bekannt und beherbergt viele der fünf-Sterne-Hotels der Stadt. Der Stadtteil San Telmo gehört zum ursprünglichen Kern der Metropole. Die Häuser sind alt, einige von ihnen verfallen oder sind besetzt. Schlendert man durch die Straßen, stößt man auf Szene-Cafés, in denen sich Studenten und Künstler rumtreiben oder ein Gast auf dem Klavier einen Tango spielt, wie im "Café La Poesía". Am Wochenende ist Markt in der Straße Defensa.
Was bewegt den Porteño zutiefst? Sollte man sich der Ausrichtung seines Gegenübers nicht 100% sicher sein, so tut man gewöhnlich gut daran, als „Fremder“ keine Stellung zu beziehen, beim Fußballverein hört der Spaß für einen Porteño nämlich auf. Denn wenn etwas nach der Geburt eines Kindes unmittelbar fest steht, dann seine Zugehörigkeit zum jeweiligen Fußballclub und auch die inbrünstige emotionale Verbindung mit diesem bis zum Sterbebett. In Buenos Aires sind 13 Erstliga-Vereine ansässig. Allerdings spielt sich der wohl emotionalste und größte „Krieg“ zwischen den Anhängern von River Plate und Boca Juniors ab, dem Verein, der auch die Fußballgröße Diego Maradona hervorbrachte. Die Passion der Anhänger führte jüngst dazu, dass bei Spielen in den Stadien der beiden besagten jeweils die Fans der gegnerischen Mannschaft aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen wurden. Die Atmosphäre in und um so ein Stadion während eines Spiel ist schon eine ganz besondere - Emotionen der gesamten Palette und meist auch kein Zögern in der körperlichen Auslebung dieser. Vielleicht noch eine Unterstreichung der Wichtigkeit dieses Sports: unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner wurden die TV-Fußballrechte ohne Ausnahme zugunsten des Volkes verändert. Argentinier können sich im Free-TV also alle argentinischen, aber auch europäische Fußballspiele kostenlos ansehen. Da wundert es also nicht, dass Lionel Messi, als Nationalheld in den Olymp Argentiniens aufgestiegen ist, egal ob er für die Nationalmannschaft oder mit dem FC Barcelona irgendwo auf der Welt spielt.
Der fleischgewordene Frauentraum: der Argentinier. Sind die Argentinier wirklich so heißblütig, erotisch und männlich wie man immer sagt ? Ein Gaucho mit stilechten Lederschuhen, passgenauer Jeans, und weißem Hemd und selbstverständlich mit entsprechendem Charisma und Sex Appeal? Sicherlich erfüllt das modische Erscheinungsbild der Männer - vor allem bei repräsentativen Treffen - dieses Klischee. Allerdings gleicht sich auch der Argentinier in Mode und Verhaltensweisen mehr und mehr den „internationalen“ Standards an. Aber hin und wieder erblickt man den echten Prototyp durch die Straßen laufend und denkt sich - das ist Argentinien.
Weitere Leidenschaften. Der von allen Besuchern stets zuerst mit der Stadt Buenos Aires assoziierte Tango ist sicherlich ein Klischee, das von dieser Stadt nie mehr wegzudenken ist - und zudem wird es von den Porteños stetig gepflegt. Die Leidenschaft dieses Tanzes wird in zahlreichen Tango-Shows und Tanz-Kursen den Besuchern der Stadt nahe gebracht. Wer die authentische wirklich noch lebendige Art des Tangos erfahren möchte, dem sei eine Milonga empfohlen, ein Treffpunkt leidenschaftlicher Tango-Tänzer. Zuweilen begeben sich die Protagonisten so tief in die Emotionalität dieses Tanzes hinein, dass zum Auftauchen aus der Tanz-Trance ein musikalischer Konterpart wie der simple Disco-Fox notwendig wird.
Vermutlich eher ein Hobby der Upper Class - das Polo. Der snobbistische Touch der Veranstaltung wird in Buenos Aires sicherlich dadurch marginal wett gemacht, dass der Sport wirklich eine extrem sportliche Note hat. Nicht umsonst finden sich die besten Polo-Reiter in Argentinien, denn die argentinischen Polo-Spieler leben diese sportliche Note mit ihrem gesamten argentinischen Temperament.
Kulinarik und Biorhythmus. Nach allen medizinischen und logischen Abwägungen sollten die Bewohner von Buenos Aires eigentlich eher zu den ungesündesten Völkern der Erde zählen. Ein exorbitant großer Fleischkonsum - alleine für den Großraum Buenos Aires werden wöchentlich über 80.000 Rinder geschlachtet. Vegetarier werden eher misstrauisch beäugt. Ein Übermaß an Weinkonsum. Ein Abendessen, das frühestens um 21:30 Uhr beginnt - und wir sprechen hier nicht vom Wochenende, sondern von normalen Werktagen. In Fitness-Studios bietet man ab 21:00 Uhr noch hochintensive Cardio-Workouts an, die auch noch voll besucht sind. Man stelle sich vor, zu welch später beziehungsweise früher Stunde diese Menschen ihre Nachtruhe finden. ABER: die Geselligkeit am Abend mit Freunden und Familie, die ausgelassene Freude am Essen, die wesentlich späteren Aufsteh-Zeiten sind für die Argentinier offensichtlich die Kompensation, die sie zu einer guten Balance benötigen! Wer schon einmal ein Asado in familiär-freundschaftlichem Ambiente genießen durfte, spürt die ausgelassene Gemütlichkeit, Freude und Gastfreundschaft der Porteños. Ohne jeden Blick auf die Uhr.
Beneidenswerte Verhaltensweisen? Kein repräsentatives Ereignis für einen gewöhnlichen Touristen, aber ein tolles Beispiel für die „Geduld“ oder „Schicksalsergebenheit“ der Bewohner von Buenos Aires. Die versuchte Entgegennahme eines Paketes als Ausländer in Argentinien ist offiziell nicht vorgesehen und gipfelt deshalb in einer bürokratischen Odyssee durch alle erdenklichen Behörden, Einwohnermeldeamt und Steuerbehörde eingeschlossen. Hat man diese Schnitzeljagd durch die Stadt dann ohne psychische Blessuren erfolgreich überstanden, folgt die Abholung im zentralen Post-Amt von Buenos Aires. Sicherlich ist der Vergleich mit einem überfüllten Flüchtlingsheim nicht all zu sehr von der Realität entfernt. Eigentlich hätte das Amt bereits in einer Stunde geschlossen, mit uns warten allerdings noch 450 Porteños auf die Entgegennahme ihres Paketes. In sehr großen Abständen erklingt ein Ton und vereinzelt stehen Menschen aus der Menge langsam auf und begeben sich zu einer weiteren Schlange, um ihrem Ziel näher zu kommen. Der Porteño hat eine unglaubliche Geduld oder nennen wir es besser Schicksalsergebenheit. Ein System, in das man sich einfach fügt. Wir juchzten nach weiteren 4 Stunden Wartezeit auf, als unsere Nummer aufgerufen wird - ein Verhalten, das den Porteño eher irritiert. Ähnliche Szenarien sind auch beim Warten auf den lokalen Bus zu beobachten. Obwohl es als Außenstehender schwer zu erkennen ist, warum die Menschenschlange genau hier steht. Aber der Bewohner von Buenos Aires weiß, dass irgendwann - wann auch immer - hier der richtige Bus vorbeikommen wird, der ihn dann hoffentlich nach Hause bringt. Gedrängelt wird nicht, nie, man stellt sich vorbildlich hinter den letzten Wartenden.
Die Geschichte lebt weiter. Eva Peron alias Evita ist nach wie vor eine Kult-Ikone. Das historische Teatro Colon ist nach wie vor ein Ort der Attraktivität für Oper und Ballett. Nach wie vor veranstalten die Madres de Plaza de Mayo seit den 1970er Jahren jede Woche einen Trauermarsch auf der Plaza de Mayo, um gegen das Unrecht des „Verschwindenlassens“ und für eine Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur zu demonstrieren. Nur ein paar kleine Stichworte aus einer Geschichte mit vielen Ups, aber noch mehr Downs - schmerzhafte Erinnerungen, die auch die jungen Portenos nach wie vor bewegt.
Fassade und Blick dahinter. Der Argentinier spricht in der Regel nicht all zu häufig und wirklich gut Englisch. Strebt man tiefere, hintergründige Konversationen mit dem Porteno an, so lohnt es sich sein Spanisch etwas aufzubessern. Allerdings gibt es auch viele zwischenmenschliche Interaktionen für die es - wie so oft - keine Rolle spielt, ob man dieselbe Sprache spricht. Auf den ersten Blick recht nüchtern entpuppt sich der Porteno als herzlich, interaktionsfreudig, temperamentvoll und liebenswert!
Sicherlich ist Buenos Aires die europäischste aller südamerikanischen Metropolen mit einem Touch Madrid und Paris. Die indigene Bevölkerung reduziert sich auf einige Randbereiche in Patagonien und im Norden von Argentinien, sodass das Stadt- und Menschenbild überwiegend wie in Europa anmutet. Begibt man sich jedoch in die Tiefen der alltäglichen Prozesse so wird schnell klar, dass es sich hier eigentlich noch um ein Entwicklungsland handelt. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist leider auch unter den Versprechungen des aktuelle Präsidenten Mauricio Macri nach wie vor bedenklich und instabil - mit all den dazugehörigen Folgen.
Noch schnell ein paar sachliche Fakten für die Wissensdurstigen. Die offiziell nur 202 Quadratkilometer große Stadt beherbergt etwa 13 Millionen Einwohnern, fast ein Drittel aller Argentinier wohnt hier. Sie erstreckt sich heute rund 68 Kilometer von Nordwest nach Südost und etwa 33 Kilometer von der Küste nach Südwesten aus. Sie wird oft als „Wasserkopf“ Argentiniens bezeichnet, da sich hier fast alle wichtigen Institutionen des Landes befinden und in der Stadt und vor allem in der Umgebung.
Versuch eines Resümees. Man könnte noch ewig weiter schreiben. Noch mehr Details und noch mehr Eindrücke. Aber das Beste ist, diese faszinierende Stadt mit ihren vielen Facetten und Ebenen einfach selbst zu fühlen, zu erfahren, auf sich wirken zu lassen. Vieles ist schwer zu begreifen und chaotisch, vieles ist anders, manches vertraut. Viele Klischees treffen zu, andere nicht. Aber eines ist Buenos Aires auf jeden Fall - beeindruckend, spannend und einfach liebenswert. In jedem Fall immer eine Reise wert.
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