Es ist ein sonniger Sommernachmittag und ziemlich heiß, als wir vor dem Guga S’Thebe Cultural Centre stehen. Zehn Minuten vor der verabredeten Zeit. Auch nach acht Jahren kosmopolitischen Nomadenlebens ist da offensichtlich immer noch manches Deutsche in uns. Beschwingt und scheinbar unbeeindruckt von den 32 Grad biegt Nati um die Ecke, lachend, mit wachen, verschmitzten Augen und auf Anhieb sympathisch. Und wie sich sehr schnell im weiteren Verlauf zeigt, ist dieser Mann ein Glückstreffer bei unserem Walk durch das Langa Township.
„Willkommen in meinem Township“ eröffnet er leicht und unbeschwert. „Ihr wisst was ein Township ist?“
Naja, wir sind schon zum dritten Mal in Kapstadt und haben auch schon einmal eine Aufführung von Amazink, einem Township-Laien-Theater in Stellenbosch, gesehen, aber dennoch sind unsere Vorstellungen eher vage. Deshalb bitte, ja, mehr Informationen von einem Local und Insider.
„Ich bin hier geboren, aufgewachsen und habe alle meine 35 Lebensjahre hier verbracht“. Und dann öffnet er sein Wissenslexikon. Der Begriff Township bezieht sich im Allgemeinen auf die verarmten Gebiete rund um die Kernstadt, also zum Beispiel in und um Kapstadt, Johannesburg und viele andere. Zum Teil entstanden die Townships durch den nicht enden wollenden Zustrom ökonomisch bedrohter Teile der südafrikanischen Bevölkerung aus ländlichen Gebieten.
„Township-Ansiedelungen sind allerdings in allererster Linie die direkte Folge des politischen Rassismus und der gesellschaftlichen Abwertung von Mitmenschen anderer Hautfarbe“, erläutert Nati. Mit dieser diskriminierenden Apartheidspolitik und dem damit verbundenen Group Areas Act begann die südafrikanische Regierung, verschiedene Rassen zu trennen, um in Großstädten wie Kapstadt „Nur-Weiße“-Gebiete einzurichten. Langa Township ist eine der ältesten schwarzen Townships in Südafrika. Es ist auch dasjenige, das der zentralen City von Kapstadt am nächsten liegt.
„Niemand weiß ganz genau, wieviele Menschen alleine im Langa Township leben. Vor Jahren hat man mal 50.000 Bewohner gezählt, aber heute sind es bestimmt über 100.000“, so seine Schätzung. Er scheint hier jeden Winkel zu kennen und wohl auch jeden Einwohner. Dieses Gefühl bekommt man jedenfalls, wenn er an jeder Ecke, vor jeder Hütte und vor jedem Haus von Kindern wie von Erwachsenen angesprochen wird und jeder ihm ein Hallo zuruft. „Langa ist ein Xhosa-Wort und bedeutet Sonne“ erklärt er, wobei sein Gesicht dies mimisch unterstreicht. Xhosa ist eine der elf Amtssprachen in der Republik Südafrika und wird vom gleichnamigen Stamm aus dem Volk der Bantu gesprochen. „Wir Xhosas sind nur einer von mehreren Stämmen in Südafrika, wobei wir wiederum in viele Stammesgruppen eingeteilt werden und darin gibt es wieder die engeren Familienkreise. Ganz schön kompliziert, oder? Aber nur für Aussenstehende. Wir untereinander wissen immer recht schnell, wer zu welcher Gruppe oder zu welchem Stamm gehört. Das sagen uns die Physiognomie und der Klang der Sprache.“ Ist wohl wie bei Bayern und Rheinländern, denken wir für uns.
Wir lauschen ihm fasziniert und hängen sprichwörtlich an seinen Lippen. Alleine wie er das X zu Beginn des Wortes Xhosa ausspricht, ist für uns völlig fremdartig und mit keiner uns bekannten Aussprache dieses Buchstabens vergleichbar. Das Schnalzen der Zunge am oberen Gaumen bekommt ein durchschnittlich begabter Mitteleuropäer mit ein wenig Übung vielleicht gerade noch hin, aber dieses für das X stehende Artikulationsgeräusch dann übergangslos in den Rest des Wortes hinein fließen zu lassen, überfordert uns. Nati amüsiert sich jedenfalls köstlich und sein Lachen entschädigt für unser beider Krampf im Zungenmuskel.
„Mein Stamm kam wie viele Bantus vor Jahrhunderten aus dem Norden, wahrscheinlich aus der Gegend des heutigen Kamerun, nach Südafrika und irgendwann landeten wir vor allem am Eastern und Western Kap. Zuerst waren wir Viehzüchter, zu Zeiten des Kolonialismus wurden viele von uns zu Sklaven. Die Kolonialherren erlaubten zuerst nur Männern, in der Nähe der größeren Städte zu wohnen und in einfachen Hütten unterzukommen, später durften dann auch die Frauen folgen, weil man merkte, dass die Arbeitskraft der Männer stabiler und zuverlässiger war, wenn sich ihre Frauen um sie kümmerten. Die Menschen, die heutzutage vom Land nach Kapstadt ziehen, erhoffen sich ein besseres Leben oder wollen einfach nur überleben. Irgendeine Bleibe und irgendeinen Job finden.“
Wir sind in eine kleine Gasse abgebogen, sehr schmal, auf beiden Seiten eingesäumt von Konstruktionen, die weit gefasst dem Begriff Hütte nahekommen. Meist sind es Kombinationen aus Planen, Decken, Plastikfolien, Holzbrettern und Wellblech, die den Menschen als Schutz und Behausung dienen. Fensteröffnungen und Türen sind dabei eigentlich permanent offen und erlauben den Blick ins dunkle Innere und den Lehmboden. Nati registriert aufmerksam unsere Mienen und kommentiert unsere unausgesprochenen Gedanken. „Ich weiß von meinen Gästen aus Europa, dass das bei euch ganz anders aussieht. Da streiten sich zwei Brüder, weil sie sich ein Zimmer teilen müssen. Ich werde immer wieder nach Privatsphäre gefragt, wenn ich erkläre, dass bei uns im Township in einer Ein-Raum-Hütte manchmal zwei oder drei Familien oder drei Generationen leben. Mehr kennen wir nicht und mehr brauchen wir nicht. Unser Leben findet auf der Straße statt. Immer und zu jeder Jahreszeit. Heizungen gibt es nicht, aber das ist ok.“ Zwei bekennende Warmduscher wollen darüber nicht nachdenken. Aber da fährt er auch schon fort.
„Wenn neue Frauen oder Männer oder Familien vom Land kommen, kennen sie fast immer irgendjemanden im Township aus dem gleichen Stamm, wo sie die erste Zeit bleiben können. Dann rückt man in der Hütte eben noch ein wenig zusammen. Oder falls es die hier schon lebenden Verwandten sogar schon zu einem Ziegelstein-Haus gebracht haben, wird ein Zimmer vorübergehend frei gemacht oder eben auch mehrfach belegt. Wenn die Neuen eine Arbeit finden, bauen sie sich mit etwas Wellblech oder Holz einen Verschlag an die Hütte oder das Ziegelhaus der Verwandten dran oder ziehen in einen solchen frei werdenden Anbau irgendwo ein. Für diesen Anbau-Raum zahlt man etwa 1.000 Rand (50 Euro) im Monat, was meist einem Viertel des Monatslohn für einen ungelernten Hilfsjob entspricht. Sich ein Zimmer in einem Ziegelhaus selbst zu mieten, ist am Anfang unmöglich, das würde den ganzen Monatslohn auffressen. Also ist die eigene Hütte lange der größte Traum. Und man lässt sich so bald wie möglich auf die Warteliste für eine staatliche Wohnung in einem Mehrfamilienhaus setzen, die für etwa zehn Prozent des Lohnes zu haben ist.“ Nati legt eine dramaturgisch wertvolle Pause ein. „Wartezeit auf so eine Wohnung 20 bis 30 Jahre.“
Nati wohnt mit seiner Familie mittlerweile in einem Mehrfamilienhaus, weil sich sein Vater bereits vor Jahrzehnten hatte auf die Liste setzen lassen. „Meine Kinder gehen auf die Primary School. Dafür arbeite ich eigentlich, denn nur so können sie es irgendwann besser haben.“ Mittlerweile gibt es im Langa Township mehrere Primary und Secondary Schools. „Leider ist das Bildungssystem hier und in ganz Südafrika immer noch sehr schlecht. Wir bräuchten im Langa dringend ein College oder eine Universität. Nelson Mandela hatte Schule und Bildung ganz oben auf seine Agenda gesetzt, aber leider nicht umgesetzt und daran mangelt es bis heute. Andere ehemalige Kolonialstaaten wie Simbabwe sind da viel weiter. Wir haben viele Lehrer, die aus Simbabwe kommen. Ich selbst habe mich entschlossen, selbst etwas für meine Allgemeinbildung zu tun und bin Stammkunde in der Bücherei. Mittlerweile habe ich zum Beispiel die Biografien fast aller großen afrikanischen Politiker und Vordenker gelesen.“ Das glauben wir sofort. Was dieser Mann über die Geschichte seines Landes, über globale politische Zusammenhänge und über philosophische Denkansätze weiß, ist beeindruckend. Man kann ihn mit keinem Thema verunsichern. Solch eine ergiebige authentische Quelle muss man nutzen und so sprudeln die Fragen weiter aus uns heraus, während wir - mittlerweile sehr gemütlich und deutlich entspannter als zu Beginn - durch das Township schlendern. Nati lässt es sich unterdessen nicht nehmen, die uns verfolgenden Kinder mit seiner Wasserflasche zu bespritzen, was bei diesen Temperaturen nur ein gespieltes Protestgeschrei auslöst.
„Warum hier überall so viele Männer herumsitzen und wo die Frauen sind?“ Er lacht. „Die Männer sind einfach träge und passiv. Das geht schon in der Schule los. Sie machen nur das Notwendigste, gehen so früh wie möglich von der Schule ab, kaufen sich über Gelegenheitsjobs so schnell es geht ein Auto oder einen Flachbildfernseher mit Satellitenschüssel auf der Hütte. Geht der Job verloren, wartet man hier, dass ein Wunder geschieht und jemand vorbei kommt, der eine Arbeit für einen hat.“ Wir haben eine Gruppe von Männern erreicht, die sehr schweigsam um einen Tisch sitzen und uns wie zur Bestätigung des Gesagten freundlich zunicken. „Ganz anders die Frauen. Die sind schon als Mädchen in der Schule fleißiger, lernen eifrig statt nur auf der Strasse herumzuhängen. Und ganz viele versuchen, danach noch irgendwo aufs College zu gehen und bessere Jobs zu bekommen. Das klappt auch meistens. Heutzutage ernähren ganz viele Frauen die Großfamilie. Aber das schafft auch viele Probleme.“ Wieder so eine geschickt gesetzte Andeutung mit anschliessender Pause und so wenden wir ihm gespannt unseren Blick zu. „Vielen Männern gefällt das Geld, das die Frauen verdienen, aber sie können nur schwer mit deren höheren Positionen umgehen. Aber was noch viel schlimmer ist - gut ausgebildete Frauen sind im wahrsten Sinne des Wortes schwer an den Mann zu bringen. Früher wie heute muß die Familie des Mannes die Frau vor der Hochzeit aus deren Familie freikaufen. Früher hat man mit Kühen bezahlt, heute mit Rand, also Geld. Eine gut ausgebildete Frau mit gutem Job ist heutzutage sehr viel wert und kann nur von wenigen Männern ausgelöst werden.“ Wir sind verblüfft. Den ersten Teil der Begründung mit den maskulinen Minderwertigkeitskomplexen kennen wir ja aus unserer Zivilisation auch recht gut. Aber der zu hohe Kuh-Kurs einer ausgebildeten Frau? „Aber die Frauen werden auch bei uns selbstbewußter und emanzipierter und verhandeln ihren Preis immer öfter selbst. Wenn überhaupt. Und sie sagen den Männern auch immer öfter, wie sie sich Familienleben vorstellen. Kinder sind kein Grund, den Job oder die Karriere aufzugeben. Man macht einfach Kinderbetreuungssharing mit Nachbarn, Freunden oder anderen Familienmitgliedern. Ein oder zwei Jahre passen Schwester oder Nachbarin auf das Kind auf, bis die Ausbildung beendet ist, dann wird getauscht. Und wenn der Job später mal verloren geht, hilft sich die Frau selbst. Frauen bewerben sich oder gründen ein kleines Business wie Schnellküchen, Haar-und Nagel-Studios, Wäschereien. Sie sind einfach aktiver als Männer.“ Wieder lächelt uns die schweigende Männergruppe an. Wir lächeln zurück und gehen weiter.
Die Strasse wird offener und breiter. Rechts und links verdrängen ein paar gemauerte Häuser die Holz- und Wellblechhütten. Manche der Häuser kann man mit Fug und Recht als kleine Villen bezeichnen. Auffällig sind die hohen Mauern und die schützenden Gitterstäbe auf Mauern und Toren. „In den Villen wohnen Township People, die es geschafft haben. Irgendwann einen tollen Job oder eine tolle Business-Idee. Trotzdem wollen sie nicht weg, weil hier hier Wurzeln und ihre Familien sind.“ Er zögert kurz. „Natürlich ist auch bei uns im Langa Kriminalität ein Thema, vor allem wegen Drogen und Alkohol und wegen der Arbeitslosigkeit von etwa 40 Prozent. Innerhalb unseres Townships ist das eher selten, da wir uns alle hier so gut kennen. Meistens hat das etwas mit Bandenkriegen zwischen den Townships zu tun.“ Er schmunzelt. „Aber zu uns trauen sich die Gangs von außen nur selten, da wir durch die großen Strassen und Autobahnen um uns herum gut geschützt und abgetrennt sind.“
Wir nähern uns dem Ende unseres Rundgangs, das Guga S’Thebe Cultural Centre ist schon in Sichtweite und die Zeit scheint uns davon zu laufen. Aber Nati scheint keinen Zeitdruck zu kennen und setzt sich gemütlich auf eine Bank. Eine kleinere Version eines afrikanischen Burkea-Baumes spendet uns angenehmen Schatten. Wieder lacht er herzhaft, als wir ihn fragen, warum er mit seinem Wissen, seiner Rhetorik und seinem Charisma nicht politisch aktiv ist.
„Nein, das ist nicht mein Ding. Aber natürlich frage ich mich, wo Südafrika heute steht.1955 wurde in Soweto die Freedom Charter beschlossen. Die darin enthaltenen Forderungen nach Demokratie, nach Gleichberechtigung sowie nach Respektierung der Menschenrechte waren ein wichtiges Instrument und eine Motivation der Anti-Apartheid-Bewegung. Sie ist bis heute Grundlagendokumenten der Regierungspartei ANC. Aber ich schätze, dass all diese Ziele bis heute höchstens zu etwa 30 Prozent erreicht sind. Sicher hat dabei auch Nelson Mandela viel bewirkt, aber er ist eher ein Held der Weißen. Wir verehren Winnie Mandela, seine Frau, die unsere Bedürfnisse viel besser verstanden und vertreten hat. Schwarze, Weiße, Asiaten und Coloureds (Farbige) – das waren die rassistischen Kategorien während der Apartheid. Das ist lange her, aber spielt im Alltag unserer Gesellschaft auch heute noch eine große Rolle. Dazu kommen die Nachfahren niederländischer, deutscher, französischer und britischer Einwanderer. Mein Land ist wirklich ein multikulturelles Land. Das bringt viele Probleme, die wir noch alle lösen müssen, aber auf das Prädikat „Regenbogennation“ sind wir auch ein bißchen stolz. Das ist auch eine Chance.“ Sein Gesicht bleibt freundlich, ist aber sehr ernst geworden. „Um die benachteiligten Teile der Bevölkerung in der Gesellschaft, also vor allem uns Schwarze und Coloureds weiter voran zu bringen, gibt es nur ein Mittel, nur einen Hebel: Bildung!“ Er wiederholt das Wort Education mindestens dreimal, so als wolle er es erzwingen. Man muss es ihm einfach abnehmen und wünscht sich, dass all die Experten für Entwicklungshilfe und für die gönnerhafte Verteilung von Finanzmitteln aus dem Füllhorn selbstgefälliger westlicher Länder diesem Mann nur einmal zuhören würden.
Er schaut uns stirnrunzelnd an. So als ob er denkt, dass jemand unmöglich noch mehr Fragen haben kann. Aber es gibt eine letzte. Wir tippeln betreten von einem Fuß auf den anderen und gestehen schließlich, dass wir große Scheu vor diesem Township-Besuch hatten. Dass wir sogar richtiggehend Scham empfunden haben, wenn wir uns vorstellten, wie wir Weiße durch ein Township laufen und uns anschauen, in welch einfachen Verhältnissen die Bevölkerung hier vielleicht lebt. Das ist ja so, als wenn eine Gruppe Schwarzer oder Farbiger als Touristen durch Stuttgart, Frankfurt oder Leipzig läuft und mal kurz einen Blick in die Wohnungen und Häuser der Schwaben, Hessen oder Sachsen wirft. Sein Lachen wird uns fehlen, da es schon für sich alleine aus jedem Problem ein scheinbar unverfängliches Gesprächsthema macht. „Ich glaube, da denkt Ihr viel mehr als wir und habt mehr Ressentiments. Ihr seid doch eine ganz andere Generation und ihr seid doch keine Kolonialherren. Das ist Geschichte. Ich kann da wirklich für viele Menschen aus dem Township sprechen. Wir fühlen uns nicht ärmer und wir fühlen auch keinen Neid. Da müssen wir doch nur nach Gardens oder Camps Bay fahren, um zu sehen, wie reiche Menschen leben. Das wissen wir alles, aber ich fühle mich mit euch auf einer Höhe. Hier im Township führen wir ein anderes, unser ganz eigenes Leben. Hier schaut jeder, dass er lebt und mit sich und seinen Nächsten im Reinen ist. Und dass er irgendwie weiter kommt mit kleinen Schritten.“ Es hätte uns an dieser Stelle nicht gewundert, wenn jetzt noch ein „Hakuna matata“ (don’t worry, no problems) gekommen wäre. Aber nein. Er schweigt kurz und denkt nach. „Ich bin sogar sicher, dass es wichtig ist, dass ihr da gewesen seid. Schaut euch die Kinder an. Durch die Pandemie haben sie fast zwei Jahre keine Weißen gesehen. Und solch ein Gespräch wie heute, dass bringt uns doch allen etwas. Da bauen wir doch zusammen eine Brücke. Stein für Stein.“
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