Der Philosoph und Schriftsteller Alain de Botton über Glück beim Reisen, Erwartungsdruck, Träume und Enttäuschungen. Ein Gespräch.
Herr de Botton, warum reisen Menschen?
Menschen reisen, um sich in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht alles wissen und dass die Welt größer, geheimnisvoller und aufregender ist, als es scheinen mag, wenn man den ganzen Tag zu Hause sitzt. Das Reisen ist eine ständige Erinnerung an all die Dinge auf der Welt, über die wir staunen.
Haben wir im täglichen Leben vergessen, dass das Leben staunenswert ist?
Ja. Das ist die ständige Gefahr dessen, was wir Alltag nennen. Durch die Macht der Gewohnheit gewöhnen wir uns an die außergewöhnlichsten Dinge. Wenn man zum Beispiel das erste Mal selbst ein Auto fährt, ist man beeindruckt und denkt, wie erstaunlich das ist. Aber nach zehn Jahren denkt man überhaupt nicht mehr darüber nach. Wer zum ersten Mal ein Kind bekommt, denkt: Mein Gott, ist das fantastisch, Kinder zu haben. Aber im Laufe der Zeit gewöhnt man sich daran. Alle außergewöhnlichen Ereignisse werden im Alltag gewöhnlich. In dieser Situation bietet uns das Reisen die Gelegenheit, uns relativ leicht daran zu erinnern, wie außergewöhnlich viele Dinge sind.
Die meisten von uns verbinden Reisen mit Glück. Woran liegt das?
Das ist eine relativ moderne Assoziation. In den entwickelten Volkswirtschaften haben die Menschen heutzutage das nötige Geld, um sich angenehme Reisen leisten zu können. Sie reisen, um sich ein schöneres Leben zu machen, als sie es zu Hause hätten. Das ist es, worum es im Tourismus geht: um vergnügliches Reisen. Oft wird das Reisen auch mit der Entdeckung spannender, besserer und schönerer Orte verbunden. Wenn man aus einem Land im Norden stammt, verbindet man Reisen häufig mit Sonne; wenn man aus einem sehr heißen Land stammt, verbindet man es eher mit gemäßigterem Klima. Wir suchen beim Reisen Dinge, von denen wir im alltäglichen Leben nicht genug haben, und darum finden wir es angenehm.
Verändern uns diese schönen Erfahrungen?
Sie garantieren keine Veränderung. Manchmal ist es erstaunlich, Menschen zu treffen, die durch die ganze Welt gereist sind. Man fragt sie, wie es war, und sehr oft hat es den Anschein, als seien die Erfahrungen an ihnen abgeprallt. Ich erinnere mich daran, das Buch eines Astronauten gelesen zu haben, der ganz langweilig beschrieb, wie es war, ins Weltall zu reisen. Reisen garantiert keine innere Wandlung, und ich denke, das ist eins der Paradoxe des Reisens. Mitunter trifft man Menschen, die nicht viel gereist sind. Aber was sie dabei gesehen haben, hat sie sehr verändert. Im Gegensatz dazu gibt es auch weit gereiste Menschen, die in ihren Beobachtungen fremder Orte und Menschen völlig banal sind.
Gibt es Dinge, die eine innere Wandlung beim Reisen garantieren?
Ich glaube, eine der größten Herausforderungen beim Reisen ist es, zu lernen, was man wirklich sehen möchte. Viele Menschen schlucken unverdaut eine Art von Vision dessen, wohin sie reisen sollten und was sie sehen sollten, auch wenn das nicht wirklich zu ihnen passt. Sie sind in Rom und denken, sie müssten diese oder jene Sehenswürdigkeit besuchen; oder in New York meinen sie, in ein bestimmtes Museum gehen zu müssen. Dabei interessiert sie das aber gar nicht sonderlich. Vielleicht kann man das mit dem Begriff „Kulturschuld" beschreiben - ein Gefühl, reisen zu müssen, etwas Bestimmtes zu sehen, um angesehen zu sein. Diese „Kulturschuld" verhindert häufig eine natürlichere und spontanere und somit lebensverändernde Herangehensweise an das Reisen.
Was verrät das gewählte Reiseziel über eine Person?
Es sagt uns etwas darüber, was einer Person fehlt, was ein Mensch am dringendsten innerlich braucht. Eine der großen Reisen der abendländischen Kultur war Goethes Italienreise. Da ist ein Mann, dem gewisse Dinge in seinem Temperament fehlen, der nach Italien reist und die fehlenden Seiten in sich entdeckt. Schematisch ausgedrückt, erhascht er einen eher sensorischen Einblick in seine Seele. Er kommt aus einem christlichen Land aus dem Norden, und er entdeckt plötzlich den Süden, die Welt der Heiden und die Sinnlichkeit. Goethes Reise zeigt auf höchst dramatische Weise, was uns auf Reisen passieren kann - Dinge zu entdecken, die uns in unserem normalen Leben fehlen.
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Warum gibt es einen so großen Unterschied zwischen dem, was wir uns vor der Reise über das Ziel vorstellen, und dem, was wir in der Wirklichkeit vorfinden?
Das große Traumbild besteht darin, dass wir meinen, wir kämen komplett verändert von einer Reise zurück. Man fährt für eine Woche irgendwo hin, kommt zurück und alles ist anders. Das ist der Trugschluss. Auch daraus ergibt sich ein Aspekt, den man vom Reisen lernen kann: Die menschliche Persönlichkeit weist einfach große Kontinuität auf. Wir verändern uns nicht so leicht, wir entwickeln uns langsam, nicht durch plötzliche Erkenntnismomente. Natürlich gibt es sie, aber im Großen und Ganzen ist es eher eine Evolution als eine Revolution.
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Was sind die enttäuschendsten Aspekte des Reisens?
Eine der größten Herausforderungen des Reisens ist es, wie man eine Erfahrung dauerhaft erhält. Manchmal erleben wir woanders etwas, das uns wichtig und wertvoll erscheint, und wir möchten das gerne festhalten. Wir machen viele Fotos, kaufen ein Souvenir. Wir wollen, das etwas bleibt nach unserer Heimkehr, und das ist oft sehr schwierig. Die für mich beste Art eine Erinnerung zu bewahren ist die, sie vernünftig zu verdauen. Also richtig hinzuschauen, genauer, als vielleicht nur ein Foto zu machen.
Was war Ihre enttäuschendste Erfahrung beim Reisen?
Ich habe oft die Angst, etwas vermeintlich Wunderbares nicht so wunderbar zu finden. Ich glaube, viele Menschen kennen dieses Gefühl: Man steht am Grand Canyon oder vor dem Kolosseum in Rom und soll nun etwas Wunderbares verspüren, und es passiert einfach nichts.
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Reisen wir zu viel mit Reiseführern? Bereiten wir uns zu sehr vor?
Reisen erfordert eine gewisse Spannung zwischen dem Nicht-Alles-Wissen und dem Nicht-Nichts-Wissen. Wer zum Beispiel keine Ahnung von Geschichte hat, kann nicht wirklich wissen, wohin er reist und was er dort alles sehen könnte. Wenn man aber zu sehr informiert ist, zu genau weiß, was man alles sehen und fühlen müsste, kann das auch hemmend sein. Ein Problem des modernen Reisens ist, dass der Gedanke an eine spontane Entdeckung stark gefährdet ist, weil man alles auf einer Webcam oder in einer Broschüre sehen kann, bevor man überhaupt dort hinfährt.
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Inwieweit bestimmen Phänomene der Moderne, etwa das Stadtleben oder die Industrialisierung, den Wunsch zu reisen?
Eines der Ordnungsprinzipien der Moderne ist die Routine, und das Reisen ist eine Unterbrechung dieser Routine. So ist es auch normal, dass es in Gesellschaften, die Routine und Pünktlichkeit hoch schätzen, auch ein entsprechendes Verlangen nach einer Flucht aus dieser Gewohnheit gibt. Man kann den Wunsch nach Reisen definitiv als eine Art Kehrseite einer sehr geregelten und vorhersehbaren Welt sehen. Unsere Gesellschaften sind relativ sicher. Es ist unwahrscheinlich, dass man umkommt oder dass Lebensmittel knapp werden. Unser Leben ist vorhersehbar. So entsteht ein Verlangen nach neuen Eindrücken, das es in gefährlicheren Gemeinschaften, wie sie in den meisten Teilen der Welt heute noch existierten, so nicht gibt.
Reisen wir nicht zu schnell und zu effizient, um der Routine wirklich zu entgehen? Entwickelt man nicht auch beim Reisen eine Routine?
Auch hier gibt es einen Gegensatz: Die Menschen wollen Aufregung, aber nicht zu viel Aufregung. Das ist wohl tief in der menschlichen Psyche verwurzelt: Wenn wir es zu bequem haben, wollen wir etwas Raueres, wenn es zu hart ist, wollen wir es bequemer. So ähnlich ist es auch beim Reisen. Wenn es zu vorhersehbar wird, wollen die Menschen einen sogenannten Abenteuerurlaub. Wer im 18. Jahrhundert reiste, begab sich auf eine Abenteuerreise. Man setzte sich der Gefahr von Tod oder Diebstahl aus, vielleicht stürzte das Pferd von den Klippen - das kam einem Abenteuer ziemlich nah. Aber heutzutage laufen die Dinge erstaunlich reibungslos, daher nimmt die Nostalgie nach rustikaleren Elementen immer mehr zu. Manche schlafen im Urlaub im Zelt, was sie vorher nicht getan hätten, sie erleben so eine neue Verbindung mit der Erde.
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Warum haben so viele Menschen dieselben Traumziele?
Es scheint, als gäbe es von Land zu Land verschiedene Lieblingsziele. Häufig hat das mit dem Verlangen zu tun, etwas ins Gleichgewicht zu bringen, wobei es hier Unterschiede zwischen Nord und Süd gibt. Briten und Deutsche lieben Italien, während Italiener besonders gern nach Schweden reisen. Weltweit versuchen Menschen durch Reisen, etwas psychologisch zu kompensieren.
Betrifft das nicht vor allem Menschen in der westlichen Welt? Weshalb gehen Menschen in anderen Teilen der Welt auf Reisen?
Ich würde die Welt nicht so sehr in West und Ost, sondern eher in entwickelt und unentwickelt einteilen. Sobald ein Land eine gewisse wirtschaftliche Entwicklung erreicht, sind die Motive zu reisen sehr ähnlich. In Japan oder Südkorea gibt es viele derselben Gedanken und Impulse, was das Reisen betrifft wie bei uns. In sehr unterentwickelten Ländern gibt eine völlig andere Sicht des Reisens. Dort gibt es keinen Tourismus, die Menschen reisen, um Familienmitglieder zu besuchen, oder sie machen eine Pilgerfahrt. Aber man findet dort nicht das, was wir Tourismus nennen würden.
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Worin liegt für Sie das Glück beim Reisen?
Zum Beispiel in der Ankunft in einer neuen Stadt. Wenn man bedenkt, wie erstaunlich es ist, dass all das an diesem Ort schon immer stattfand und ich nie wusste, dass es diese besondere Straßenseite, diesen Basar oder dieses Cafe gab. Dass all diese Menschen leben und ich nie von ihnen wusste, und da sind sie plötzlich. Das ist eine Erfahrung, die einem die Augen öffnet.
Die Auszüge dieses Interviews wurde im September 2008 vom Goethe-Institut e. V. in der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann veröffentlicht. Themen und Aussagen, die bis heute ihre Gültigkeit haben.
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